Von Zeitreisen

„Es existiert ein Photo – ich habe es lange nicht gesehen, aber in irgendeiner Kiste muss es liegen – auf dem S, in einem gestreiften Höschen, und K, nackig, an der damals daumendicken Sequoia vorbeispazieren.“ „Im Hintergrund stand unser rotes Planschbecken.“ „Ja genau, dann hast du das Photo wohl abgegriffen!“ Dieser Austausch zwischen G und K enthält nichts ungewöhnliches. Er veranschaulicht dafür umso besser, wie Photographien mit der Erinnerung verschmelzen können. Unser Gedächtnis ist kein objektiver und permanenter Datenspeicher, der all unsere Erfahrungen authentisch und unveränderlich bewahrt. Einige Erlebnisse werden im Laufe der Zeit vergessen oder verfälscht erinnert, andere gar nicht erst gespeichert. Viele sind kaum mehr eigene Erinnerungen, sondern vielmehr Rekonstruktionen von Photos und Erzählungen.
„Nicht nur ist das PHOTO seinem Wesen nach niemals Erinnerung […], es blockiert sie vielmehr, wird sehr schnell Gegen-Erinnerung. Einmal sprachen Freunde über die Kindheitserinnerungen; sie besaßen solche; ich aber hatte gerade meine alten Photos angesehen und besaß keine mehr. Inmitten dieser Photographien konnte ich mich nicht mehr mit den Rilkeversen trösten: So milde wie Erinnerung; duften im Zimmer die Mimosen. […] Das PHOTO ,badet‘ das Zimmer nicht: kein Duft, keine Musik, nichts als die unmäßige Sache. Die PHOTOGRAPHIE ist gewaltsam, nicht weil sie Gewalttaten zeigt, sondern weil sie bei jeder Betrachtung den Blick mit Gewalt ausfüllt und weil nichts in ihr sich verweigern noch sich umwandeln kann […]“
Als „umgekehrte Prophezeihung“ kann sie – unfähig in dieser Sache zu lügen – niemals über die Existenz ihres Objekts hinwegtäuschen. Vielmehr ist es ihr inhärent, die Bedeutung einer Sache tendenziös darzustellen. „Die PHOTOGRAPHIE sagt (zwangsläufig) nichts über das, was nicht mehr ist, sondern nur mit Sicherheit etwas über das, was gewesen ist. […] Das Wesen der PHOTOGRAPHIE besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.“ Sie kann, aus dieser Sicht, nicht als Analogie zum Objekt empfunden werden. Sie stellt weder Abbild noch Wirklichkeit dar – etwas Echtes, das nicht mehr greifbar ist. Sie zeugt nicht von einem Objekt, sondern von einer Zeit, die vergangen ist. Anstatt die Vergangenheit zurückzurufen, beglaubigt die Photographie, dass sie dagewesen ist. „Die Nahrung, die die PHOTOGRAPHIE meinem Geist gibt (ohne ihn je damit zu sättigen), ist, durch einen kurzen Impuls, dessen Anstoß nicht in Träumereien abschweifen lässt […], das schlichte Geheimnis der Gleichzeitigkeit.“
Die Betrachtung einer Photographie enthält immer Aspekte einer Zeitreise – ein endgültig vergangener Moment kann unendlich oft reproduziert werden. Manchmal erweitert sich dieses Zeitreisephänomen auch auf die Aufnahme selbst: Indem ich ein dreißig Jahre altes Artefakt mit einer ähnlich alten Kamera auf einem, zu diesem Zeitpunkt bereits erhältlichen Film belichte, erhalte ich ein neues Photo. Das Bild wird sich jedoch nur schwer dem Jetzt zuordnen lassen. Es wird bereits im Moment seiner Entstehung zu einer Geschichte, die so authentisch erzählt wird, dass sie schein­bar in der Zeit gereist ist.

Barthes, R. (1985): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. suhrkamp, Frankfurt/Main.: 102

Barthes 1985: 95

vgl. Barthes 1985: 92 ff

Barthes 1985: 93