Der Vektor blockiert seinen eigenen Entwurfsprozess

Die Arbeit am Rechner macht mich zäh; meine Gedanken prallen am Bildschirmglas ab; die Übertragung in den digitalen Raum ist träge – rauscht. Ich fühle mich, wie in einem dieser Träume, in denen ich rennen muss, aber nicht vorankomme; weil die Atmosphäre zu viel Widerstand leistet, weil der Boden keinen Halt gibt. Jedes mal, wenn ich einen Ankerpunkt anfasse falle ich in einen Strudel. Es ist ermüdend und berauschend zugleich. Die Kurven winden sich entweder in Anmut über den Bildschirm oder verhöhnen mich in ihrer unnahbaren Art. Wie kann eine Illusion (denn die Kurven zwischen ihren Punkten sind kaum mehr als das) so flüchtig und beherrschend zur gleichen Zeit sein? Vorlaut bestimmen Anker und Griffe das Zeichen und lassen dabei keinen Raum für Interpretation. Mehr noch: Sie unterbinden bereits die Idee, es könnte anders sein. Damit blockiert der Vektor seinen eigenen Entwurfsprozess. Sein Streben nach Perfektion entzieht mir jegliche Energie – dann verleiht mir die gelungene Kurve wieder einen Kick. Ich kann nicht mehr aufhören; verliere mich gänzlich in den Zeichen, bis mich die Erschöpfung letztlich zum Loslassen zwingt.
So ambivalent sich diese persönliche Beziehung zu Vektoren gestalten mag: Sie ist aus der zeitgenössischen Designarbeit nicht wegzurationalisieren. Es gilt sich mit den Pfaden einzulassen, ohne sich jedoch gänzlich an ihnen zu verlieren. Denn der Vektor tut am besten das, wofür er entwickelt wurde: Die, durch menschliche Arbeit bedingte Varianz aus einem Arbeits- und Produktionsprozess eliminieren.
Der Bedarf nach sauberen Kurven ist bedeutend älter als deren mathematische Berechnung. Bereits in der Mittelsteinzeit wurden nachweislich Hölzer zu Bögen geformt um damit robustere kuppelförmige Unterschlupfe – ähnlich den Wigwams, der nordamerikanischen indigenen Bevölkerung – zu errichten. Spätestens mit dem Schiffsbau gewann auch die Ak­ri­bie dieser Biegungen bedeutend an Relevanz. Für den Bau ihrer Flotten (aus baugleichen Booten) fertigten die Römer Schablonen in Originalgröße an, um ihre entworfenen Bögen auf die verschiedenen Hölzer zu übertragen. Diese Bauart wurde bis in das 17. Jahrhundert perfektioniert. Um präzise Bogenformen zu erstellen, wurden unter anderem, Gewichte an einem biegsamen Stock angebracht, um diesen in einer bestimmten Kurvenposition zu halten. Von dieser Technik stammt der Namen Spline, der sowohl Splinter, oder Holzstab bedeutet, wie auch eine Kurve im dreidimensionalen Raum beschreibt. Neben dem Schiffbau verbreitete sich der Gebrauch von Kurvenlinealen auch in anderen (konstruktiven) Branchen; der Mathematiker Ludwig Burmester veröffentlichte um 1900 einen standardisierten Satz von Kurvenvorlagen. Bis zum Aufkommen von modernen Rechnern blieb dieses Set – aus verschiedenen mathematische Kurven – das Werkzeug der Wahl, um gewölbte Objekte zu zeichnen.
Die moderne computergenerierte Kurve findet ihren Ursprung bei den französischen Autoherstellern Citroën und Renault. Das, in Mode kommende, stromlinienförmige Design des 19. Jahrhunderts verlangte eine neue Lösung zur präzisen Produktion kurviger Karosserieteile. Citroën bediente sich damals bereits einfacher analoge Computer, um Fräsen zu steuern – damit konnten Geraden, Kreise und einfache Parabeln zugeschnitten werden. Paul de Faget de Casteljau entwickelte unter diesen Voraussetzungen das fehlende Puzzleteil für die freie Form: Ein System von Gleichungen, um beliebige Kurven zu zeichnen. Citroën hielt diese Entwicklung jedoch so lange unter Verschluss, bis Renault – die das gleiche Prinzip etwas später entwickelten – es zuerst veröffentlichte; die Kurve trägt bis heute den Namen des Chefs der renaultschen Designabteilung: Pierre Bézier.
In den 1980ern veröffentlichte Adobe Systems PostScript, eine Seitenbeschreibungssprache, die üblicherweise als Vektorgrafikformat zum Drucken digitaler Dokumente verwendet wird. Es ermöglicht den Einsatz von Vektorschriften, wie wir sie bis heute kennen. Außerdem finden sich Bézierkurven heute – unter anderem – in Softwareanwendungen wie Adobe Illustrator, wo sie, zum Erstellen von Vektorgraphiken, durch das Klicken und Ziehen von Scheitelpunkten direkt beeinflusst werden können.
Die Bézierkurve revolutionierte das Design. Der erhebliche Raum für qualitative Interpretation der Geometrien, Inkonsistent, Diskrepanz und menschliche Fehler erlagen ihrer Präzision.
„Was hast du Neues gelernt im Vektor-Business?“ J ist sosehr in das Ziehen seiner Kurven vertieft, dass eine Antwort vorerst ausbleibt. Auf seinem Bildschirm zeichnet sich etwas ab, das (dem Anschein nach) einmal ein Ampersand werden soll. „Diese Kurve sieht verboten aus!“ „An diesem Zeichen ist alles verboten! Ich würde es eher als generelle Formfindung beschreiben.“ Vektorbasierte, generelle Formfindung. Er verteidigt sich; sein Entwurf selbst würde das pfadbasierte Arbeiten bedingen. Aber was bedingt indessen der entwerfende Vektor?

Diese können als Äquivalent zu digitalen Ankerpunkten gesehen werden.

… auf der graphischen Benutzeroberfläche …

Townsend, A (2015): „On the Spline“. URL: http://www.alatown.com/spline/#more-809 (Abrufdatum: 18.Januar 2022).