Über das Begreifen von nicht Greifbarem

Denken Menschen mit einem organisierten und / oder strukturier­ten Leben digitaler? Oder impulsive, spontane Individuen analoger? Was ist mit einem Gedankengang den ich nicht artikulieren kann? Oder ist eine formulierte Idee immer digital, weil sie sich in einer Syntax wiederfindet? Digitalisiere ich meine Erinnerung, während ich versuche sie zu fassen, niederzuschreiben um sie anschließend zu lesen, zu dekodieren und zu verstehen? Sind die Emotionen, die ich nicht erklären kann zu analog um sie mit Worten zu beschreiben?
Das menschliche Gehirn  lässt sich auf zwei (wissenschaftliche) Weisen beschreiben: Der sogenannte Top-Down-Ansatz betrachtet das Organ als Ganzes und beschreibt es als „distributiv organisiertes, hochdynamisches System“. Die walnussartig ge­wundene Oberfläche lässt sich wie eine Landkarte in unterschiedliche funktionale Regionen unterteilen. „Auf dieser Ebene betrachtet stellt sich die Arbeit des Gehirns als ein netzwerkartiges Miteinander von zum größten Teil hochspezialisierten Verarbeitungseinheiten dar.“  Aus dieser Sicht – der Modularität unseres kognitiven Systems – ist die Frage nach einer analogen oder digitalen Verarbeitung deplatziert. „Die hier mögliche hirntopografische Zuordnung von Funktionen und Leistungen endet mit in sich hochkomplexen Modulen, die jeweils spezifische Verarbeitungsleistungen erbringen.“  Es lässt sich jedoch nicht als universale Rechen- oder „Symbolsystemmanipulierungsmaschine“ bezeichnen.
Der Bottom-Up- stellt die gegensätzliche Perspektive des eben beschriebenen Top-Down-Ansatzes dar. Er möchte die Funktionsweise des Organs von der kleinsten Einheit her erklären: Den Nervenzellen beziehungsweise gar deren submikroskopischen Bestandteile wie Membranproteine und Transmittersubstanzen. Auf dieser Analyseebene können die Verarbeitungsprozesse, die das Gehirn leistet, als elektrische und chemische Vorgänge nachvollzogen werden. Die Komplexität, der man hier gegenübersteht, vergleicht Susan Greenfield mit einem Dschungel: „Der Amazonas­wald erstreckt sich über eine Fläche von rund 4.300.000 Quadratkilometer und enthält etwa 100 Milliarden Bäume, also etwa soviel Bäume, wie wir Nervenzellen im Gehirn haben. Aber diese Metapher ist hier noch nicht zu Ende: Wenn wir nun die riesige Zahl von Verbindungen zwischen den einzelnen Neuronen in Rechnung ziehen, können wir sagen, dass es im Gehirn so viele Nerven­verbindungen gibt wie Blätter im Amazonasdschungel.“ Jede der 100 Milliarden Nervenzellen steht mit etwa 10 000 bis 100 000 Nachbarn in Verbindung.
Eine Nervenzelle lässt sich funktional dreiteilen: Das zentrale Element bildet der Zellkörper mit Zellkern, die psychologische Schaltzentrale zur Signalverarbeitung. Mithilfe der Dendriten, die in Form verzweigter Fortsätze in Kontakt mit anderen Zellen stehen, kann die Nervenzelle Signale empfangen. An einer Stelle entspringt dem Zellkörper außerdem das Axon – ein längerer, sich ebenfalls verzweigender Fortsatz, der Signale an andere Zellen weiterleitet. Letzteres (und seine Funktionsweise) verantworten den Verdacht der Digitalität in zellulärer Informationsverarbeitung. „Grund dafür ist die Beschaffenheit des Aktionspotenzials ˙, des elektrochemischen Ereignisses durch das sich Signale entlang dieser Leitungsbahn fortpflanzen. Der Begriff der ‚Leitungsbahn‘ legt Assoziationen mit elektrischen Leitungen nahe; das biologische Pendant, um das es jedoch hier geht, funktioniert grundsätzlich anders. So kommt es nicht zu einem Elektronenstrom durch einen elektrischen Leiter, da ein solcher hier nicht vorhanden ist. Was stattfindet sind vielmehr Potenzialverschiebungen zwischen dem Inneren dieser von Membran umgebenen Struktur und dem umgebenden Medium.[…] Das auffälligste Merkmal des Aktions­potenzials ist, dass es immer in gleicher Weise erfolgt. Ganz gleich wo im Gehirn und zu welchem Anlass, wann immer eine Zelle Signale durch ihr Axon in Richtung ihrer Nachbarn sendet, haben diese die Form von Aktionspotenzialen. Diese Uniformität des elektrochemischen Ereignisses, das für die neuronale Weiterleitung verantwortlich ist mag es nahe legen hier an eine digitale Codierung zu denken.“ Solche Überlegungen sind jedoch best­en­falls obsolet: „Untersuchungen auf zellularer Ebene haben bereits frühzeitig gezeigt, dass die Informationsverarbeitung im Gehirn anders als im zurzeit üblichen Computer keinen absoluten Taktgeber zur Verfügung hat. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Frage der Codierung von Informationen im Nervensystem. Der Versuch, die Informationsverarbeitung im Nervensystem als ausschließlichen Binärcode zu verstehen, kann deswegen nicht gelingen, weil für die einzelnen Impulse keine strengen Zeitfenster definiert sind, die es ermöglichen würden, dem Eintreffen oder Nichteintreffen eines Signals den Wert 0 oder 1 ähnlich zuzuordnen, wie das in einem Rechnersystem geschieht.“
Obwohl die Aktionspotenziale der Axone diesen uniformen Charakter standardisierter Ereignisse aufweisen, lässt sich daraus also kein digitales Wesen des Gesamtsystems ableiten. „Um dieser theoretischen Verlockung zu widerstehen w– schließlich handelt es sich um elektrochemisches Geschehen im Millisekundenbereich, das wie der kleinste gemeinsame Nenner aller Nervenzellen wirkt – sei hier eine Analogie ins Feld geführt. Von den Aktionspotenzialen auf systemische Digitalität zu schließen wäre ungefähr so, als wenn man von der Gleichförmigkeit der Wassertropfen aus allen tropfenden Hähnen der Welt auf einen digitalen Charakter des Leitungssystems schließen wollte.
Die Konstanz des elektrochemischen Geschehens entlang der Axone dient im Zusammenhang der neuronalen Verarbeitung einer letztlich analogen Signalübertragung zu den Zielzellen.“  
Von der gelungenen hochakkuraten Signalweiterleitung von einer zur nächsten Nervenzellen alleine, habe ich jedoch noch lange keinen klaren Gedanken gefasst, keinen surrealen Traum geträumt oder einem unangebrachten Gefühlsausbruch widerstanden. Woher kommen also all die leichtsinnigen und sinnigen Ideen? Da die Axone nichts Derartiges vollbringen – sondern nur mit hoher Akkuratesse weiterleiten, was woanders herkommt – muss das, dem Ausschlussverfahren nach, die Angelegenheit der Dendriten und Zellkörper sein.
„An der Membran der Dendriten und ebenso an der des Zell­körpers spielt sich das Geschehen ab, das letztendlich dazu führt, dass am Beginn des Axons, dem so genannten Axonhügel, ein Aktionspotenzial entsteht. Dieses entsteht immer, wenn am Axon­hügel ein bestimmtes elektrochemisches Potenzial überschritten wird, und nimmt dann seinen Weg entlang des Axons.“ „Der wichtigste Faktor für die Integrationsleistung einer Nervenzelle ist das zahlenmäßige Verhältnis von erregenden und hemmenden Synapsen und natürlich die Tatsache, wo diese ansetzen. Eine gleichzeitige Erregung und eine Hemmung, hervorgerufen durch die selbeZahl erregender und hemmender Synapsen an den selben Stellen, sind gleich stark und heben sich gegenseitig auf, während unterschiedliche Zahlenverhältnisse der beiden Synapsentypen, kombiniert mit unterschiedlichen Ansatzorten, sehr unterschiedliche Erregungszustände hervorrufen. Erregende Synapsen sind vermehrt in distalen Dendritenbereichen zu finden, während hemmende Synapsen dazu tendieren, in der Nähe des Axonhügels anzusetzen. Dadurch können letztere, selbst wenn sie viel geringer an Zahl sind, den Erregungsfluss sehr effektiv, sozusagen in der ‚Hinterhand‘ beeinflussen.“
„Die Erregung und Hemmung durch eingehende Signale bezieht sich in diesen Ausführungen auf den elektrochemischen Zustand der Zellmembran. Erregung bedeutet, dass sich die Potenzialver­hältnisse der Membran der Feuerschwelle des Axonhügels annähern. Hemmung bedeutet, dass genau dies verhindert wird. Durch die Gestalt der Nervenzelle, die man sich zu diesem Zweck als Gummihandschuh mit extrem verästelten Fingern vorstellen kann, und die Vielzahl der Synapsen, die sich auf ihrer Oberfläche befinden, kommt es auf diese Weise zu einer komplexen dreidimensionalen Verrechnung der eingehenden Signale. […] Die Bedeutung der einzelnen Synapse für das Gesamtgeschehen in der Zelle resultiert dabei aus der Kombination von Ansatzort, Aktivität und Wirkungsweise. Und nur, wenn das daraus resultierende elektrochemische Gewitter im Mikrobereich an einer Stelle der Zelle, nämlich dem Axonhügel, einen bestimmten Grenzwert überschreitet, kommt es zu einem ausgehenden Signal, das wiederum bei etlichen tausend oder zehntausend Zellen in deren Potenzialgewitter eingreift.“
Dieser kontinuierliche Charakter der grundlegenden Verarbeitungsprozesse lässt unseren Denkapparat klar als analog arbeitendes System beschreiben; seine Funktionen heben sich deutlich von denen einer digitalen Methode ab: „Bei digitalen Rechenoperationen werden verschiedene rechnerische oder logische Schritte (Algorithmen) durchlaufen. Analoge Systeme vermeiden es, diese Schritte zu durchlaufen […] – sie vermeiden zu rechnen.“ Der Output einer Nervenzelle gleicht dagegen eher einem Cocktail aus tausenden Zutaten – der Ursprung eines jeden Gedanken besteht aus einer analogen Fülle elektrochemischer Zustände die sich keinesfalls in Nullen und Einsen dekomponieren lassen. Dass das, was unser Gehirn tut, grundlegend auf analogen Prozessen fußt, hindert mich jedoch nicht Denkweisen einer analogen oder digitalen Art zuzuweisen.

Aufgrund seines hohen Flüssigkeitsgehalts wird es von einigen Computerexperten dünkelhaft auch als Wetware bezeichnet.

Uhl, M. (2004): „Ist Denken digital?“ In: Schröter, J., Böhnke, A. (Hrsg.) (2004): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?. transcript Verlag, Bielefeld. 135–142: 136 f

Uhl 2004: 137

Uhl 2004: 135 ff

Greenfield, S. A. (2003): Reiseführer Gehirn. Spektrum, Heidelberg. Nach: Uhl 2004: 138: 105

vgl. Uhl 2004: 137 f

Uhl 2004: 139

Linke, D. (2002): Das Gehirn. C.H. Beck Verlag, München. Nach: Uhl 2004: 139: 81

„Je nachdem, wie viele Aktionspotenziale in welcher Frequenz die Synapsen erreichen, werden unterschiedlich viele Neurotransmitter ausgeschüttet. Diese Botenstoffe überbrücken als rein chemische Signale den winzigen Spalt zur nächsten Zelle und interagieren mit der gegenüberliegenden Membran.“ Uhl 2004: 140

Uhl 2004: 140

Uhl 2004: 140

Roth, G. (2003): Denken, Handeln, Fühlen. Suhrkamp, Frankfurt/Main. Nach: Uhl 2004: 141: 121

Uhl 2004: 141

Gregory, R. L. (2001): Auge und Gehirn. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg. Nach: Uhl 2004: 141: 109

vgl. Uhl 2004: 141 f