Kulinarische Konditionalien

Kaum eine Tätigkeit übt eine so beruhigende Wirkung auf mich aus, wie die Zubereitung von Essbarem. Der produktive und dabei auch kreative Prozess bietet mir die absolute Prokrastination; zusätzlich wird der gesamte Hergang von Vorfreude erheitert. Ich esse wirklich gerne!
Darüber hinaus ist das Kochen und Backen grundlegend von analogen Erfahrungen geprägt: Geruch, Geschmack, Konsistenz und Aussehen summieren sich zu einem qualitativen Erlebnis. Aber während man dem Verzehr an sich kaum etwas Digitales abverlangen kann – oder sollte und / oder möchte – gilt das für die Zubereitung nur bedingt. „Meine Mama ist die analogste Bäckerin!“ „Ganz ohne Waage?!“ „Rein nach Gefühl!“ Doch selbst ohne Waage kann davon ausgegangen werden, dass bei der Zubereitung des sagenhaften Rotweinkuchens ein fester Handlungsablauf befolgt wird, um das – in sich immer sehr ähnliche – Gebäck zu erzeugen. Es wird ein Algorithmus befolgt, der das Programm Rotweinkuchen backen abwickelt. Es wird sich an ein Rezept gehalten.
Während sich die analoge Bäckerin noch am unteren Rand dieser kulinarischen Digitalisierung ansiedeln ließe, findet sich an deren Spitze wohl die Erfindung des Thermomix. Das Ergebnis bleibt dabei aber stets olfaktorisch, gustatorisch, haptisch und visuell – analog.
Die Gestaltung spielt, ganz ähnlich dem Kochen, mit der kreativen Anordnung von Einzelelementen. Diese kreative Anordnung kann in zwei Bestandteile unterteilt werden – einem designten, designenden und einem programmierten, programmierenden Part. Beide sind eng ineinander verwoben und bedingen sich stark gegenseitig. In dem die Gestaltung Regeln für das Zusammenspiel der Gestaltungskomponenten bestimmt, entwickelt sie ein gestaltendes Programm. Anstelle der ultimativen Lösung eines Problems steht das Programm zum erarbeiten von Lösungen. Denn ebensowenig, wie alle Möglichkeiten auf die eine Absolute begrenzt werden können, kann es eine absolute Lösung geben. Lösungen beschreiben immer eine Varianz, aus der die – den Umständen entsprechend jeweils beste – gewählt werden muss. Da kreative Entscheidungen stets auf durchdachten Kriterien, anstatt einer impulsiven Gefühlslage, fußen, zeigt sich das Programm in Form der Logik eines jeden Gestaltungshergangs. Je exakter und umfassender diese Kriterien bestimmt sind, desto kreativer gerät die Arbeit; der kreative Prozess soll sich auf den Moment des Auswählens, der generierten Lösungen, reduzieren. Die Gestaltung beschreibt dann das Auslesen und Kombinieren vorgewählter Komponenten. Oder anders formuliert: Design verlangt nach Methoden.
Ebenso lässt sich beispielsweise ein typographisches Raster als formales Programm betrachten: Die proportionale Anweisung bestimmt die Anordnung unbestimmt vieler Objekte. Die Schwierigkeit zeigt sich in der Balance zwischen der maximalen Stringenz bei gleichzeitig größtmöglicher Freiheit. Oder: Das Maximum von Konstanten bei höchster Variabilität zu erhalten. Programme zu gestalten bedeutet, ein allgemeingültiges Prinzip aller integrierter Ansätze zu finden.
Das deutlich alltäglichere, anschaulichere Programm bleibt dennoch das (Back-)Rezept. Mit einem klaren Ergebnis im Sinn nennt es zuerst die Zutaten, bevor es die genauen Handlungsschritte vorschreibt. Die Schwierigkeit liegt anschließend gelegentlich in der Interpretation der gelassenen Freiräume. Es entsteht ein Tanz aus analogen Schritten in digitalem Takt.
Man hat mich zum Abendessen (und -trinken) eingeladen. Die Besonderheit: Jeder Cocktail, der gemischt wird, wird in einem kleinen Notizbuch festgehalten – gezeichnet, das Rezept notiert, kommentiert und bewertet. „Ich gebe eine vier.“ „Vier?“ „Wie weit geht denn die Skala?“ „Bis fünf!“ „Ah. Warum nur bis fünf?“ „Das hat P so festgelegt“ „Aber fünf was? Kann ich einen negativen Wert angeben?“ „Nein. Von null bis fünf! Du darfst Dezimalzahlen verwenden.“ „Das ist mir zu numerisch. Ich fordere ein stufenloses Bewertungssystem!“ Nachdem ich mich doch auf eine 2,8 festlegen lassen habe, bin ich mit Mischen dran. Nach Gefühl schütte ich Sirup und Vodka auf die Eiswürfel, schüttle das Gebräu (bis man das Eis nicht mehr hört) und gieße es mit Secco auf. Es riecht nach einem süßen Parfüm, wie es Teenager gerne tragen und das Getränk wird ironisch mit Mini Love betitelt. „Du musst das Rezept unter deine Zeichnung notieren.“ Ich schreibe: Pink Grapefruit, Lemon Vodka, Secco. „Nein, mit Mengenangabe!“ Ich zeichne ein Diagramm neben die Füllmenge des Glases. Die Bewertung erfrage ich im Verhältnis zu den Vorhergegangenen. Besser? Ähnlich? Schlechter? Neben den Namenskürzeln halte ich die Antwort mithilfe von Pfeilen fest. Weil P sich korrigiert hat, geht sein Pfeil erst nach rechts und macht dann eine Biegung nach oben. S ist an der Reihe; ich reiche ihm das Heft. „Was ist das denn?“ Ein charmant irritiertes Schmunzeln. „Ein analoges Bewertungssystem.“ Die Nacht wird lang, leger und lustig. Bei Sonnenaufgang stolpern wir durch den Neuschnee nach Hause. „Und warum genau musste deine Skala analog sein?“ „Um zu provozieren!“

Eine Multifunktions-Küchenmaschine, die Lebensmittel unter anderem wiegen, rühren, kneten, zerkleinern, mixen, erwärmen, kochen, dünsten und anbraten kann. Das – per Touchscreen gesteuerte – Gerät gibt präzise, schrittweise gegliederte Anweisungen zur Zubereitung des gewählten Gerichts.

vgl. Gredinger, P. (2019): Pro-Programmatic. In: Gerstner, K. (2019): Designing Programmes. Lars Müller Publishers, Zürich: 2

vgl. Gredinger 2019: 9

vgl. Gredinger 2019: 12