Das emanzipierte Symbol

Die Pandemie hat dem Videotelephonat seine Extravaganz genommen. Irgendwo zwischen zwei (Online-)Terminen im Warteraum fange ich Bruchstücke einer Unterhaltung auf. A mimt ihre Nichte: „Du musst auf den Trichter klicken, damit ich dich sehen kann!“
Es dauert zugegeben etwas, bis diese Aussage durch meinen eigenen Trichter geträufelt ist. Stirnrunzelnd inspiziere ich das Symbol, das mit Video starten unterschrieben ist. Tatsächlich weist es mehr Ähnlichkeit mit einer Wärmflasche, als zu einer Videokamera auf. Dennoch wird es vom größeren Teil der Nutzenden zweifelsfrei als Kamera gelesen. Es hat sich gleichsam emanzipiert.
Das lässt sich anhand der Trennung von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen, wie sie Charles Sanders Peirce vorgenommen hat, veranschaulichen.
Ikonische Zeichen weisen demnach eine direkte Analogie zu dem auf, für das sie stehen – sie bauen auf das Ähnlichkeitsverhältnis visueller, akustischer, haptischer, olfaktorischer oder gustatorischer Art. Dies kann beispielsweise ein Piktogramm sein, dessen Form von der Form des dargestellten Gegenstands, abgeleitet ist. Aber auch ein Schieberegler ist ein derartiger Analogismus, bei dem mehr Schieben auf mehr Volumen verweist.
Indexikalische Zeichen sind dagegen Zeichen, die einen kausalen Bezug haben. So verweist ein nasser Fleck an der Hausecke auf einen – vor nicht allzu langer Zeit – vorbeigelaufenen Hund.
Die Erscheinung des symbolischen Zeichen hat letztendlich nichts mehr mit dem Beschriebenen gemein. Seine Bedeutung stützt sich auf eine reine Übereinkunft der Nutzenden. Das Beste und wohl wichtigste Beispiel hierfür ist die Sprache. Die allermeisten Worte und Wortbilder stehen in keinem Verhältnis mit dem Beschriebenen – einmal abgesehen davon, dass ihr Zusammenhang verstanden wird.
Ähnlich der Wärmflasche haben ikonische Zeichen öfter die Angewohnheit, sich mit der Zeit zu symbolischen Zeichen zu mausern. Auch Gesten und Funktionen, die ursprünglich eine starke visuelle Analogie aufwiesen, werden häufig immer weiter abstrahiert, bis sie gelernt werden müssen. So wurde beispielsweise bei der ursprünglichen Swipe to unlock-Funktion ein Schieberegler auf dem berührungssensitiven Bildschirm des Mobiltelephons gezeigt, welcher zur Seite geschoben werden musste, um das Gerät zu ent­sperren. Die Geste hat sich inzwischen etabliert und ist bei der überwiegenden Zahl der Nutzenden erlernt. Der -regler selbst hat sich zu einer dezenten Linie stilisiert. Gleichzeitig wird das autarke Erlernen dieses Interfaces für neue Nutzende deutlich erschwert.
Einen ähnlichen Prozess hatte Foucault bei Sprache und Wissenschaft festgestellt. So gäbe es eine immer größer werdende Entfernung von Sprache und Wissenschaft zum „Grundsatz der Darstellung durch Ähnlichkeit“. Oder anders formuliert: Begriffe, die die Wissenschaft verwendet, repräsentieren immer weniger das, was sie beschreiben. Es wird also schwerer vom Begriff allein auf jenes zu schließen, für das er steht. Umgekehrt bedeutet das, dass das Entschlüsseln der Bedeutung nur durch Wissen, aber nicht durch elaboriertes Erraten stattfinden kann.
Allgemein lässt sich in der wissenschaftlichen Entwicklung beobachten, wie die Realität mit zunehmendem Grad abstrahiert wird. Es ist also anzunehmen, dass die Wissenschaft mehr und mehr das Feld der Analogien verlässt. Damit exkludiert sie auch eine Reihe subjektiver oder qualitativer Beobachtungen, die die Kunst jedoch zu vermittelt vermag. Die Betrachtenden versuchen aus ihr die Intention der Kunstschaffenden zu interpretieren. Damit das Kunstwerk seine Wirkung entfalten kann, müssen die Betrachtenden dieses auf ihre eigenen Erfahrungen beziehen – es muss eine Analogie hergestellt werden. Arbeitet Wissenschaft digital und Kunst analog?
Zurück zu den Zeichen lässt sich indessen festhalten, dass sich jene symbolischen – hingegen den, auf Analogien fußenden ikonischen – zweifelsfrei als digital beschreiben lassen. Der wohl – gleich nach der Sprache – wichtigsten Vertreter dieser Art finden sich im alphanumerischen Code. „[E]in Gemengsel aus verschiedenen Arten von [symbolischen] Zeichen: Buchstaben (Zeichen für Laute), Ziffern (Zeichen für Mengen) und eine ungenau definierte Anzahl von Zeichen für Regeln des Schreibens (zum Beispiel Punkte, Klammern und Anführungszeichen).“

Und zwar einem Exemplar mit besonders ausladendem Trichter!

vgl. Schweppenhäuser 2007: 135

vgl. Schweppenhäuser 2007: 134 ff

FLUSSER, V. (1987): Die Schrift.
Immatrix Publications, Göttingen: 26